D O N   D E L I L L O

"Unterwelt" - Meisterhafter Wälzer

Von Jörg Häntzschel

Der Italiener aus der Bronx hat sich in den Parnaß der Weltliteratur hinaufgeschrieben. "Unterwelt" ist der Epochenroman für das ausgehende Jahrhundert.

 1951 entschied der spektakuläre Home-Run von Bobby Thomson das Endspiel der Baseball-World-Series zwischen den Giants und den Dodgers. Es war der "Schuß, den man auf der ganzen Welt hörte". Doch noch einen anderen Schuß hörte man auf der ganzen Welt: Während die Fans im Stadion jubelten und sich der schwarze Junge Cotter den in die Tribünen geschlagenen Ball schnappte, erhielt J. Edgar Hoover in seiner Loge die Nachricht, die Sowjetunion habe eben ihre erste Atombombe gezündet. Der kalte Krieg hatte begonnen.

DeLillo beginnt die Erzählung mit dessen Ende 1992, als der Sondermüllunternehmer Nick Shaw zufällig seiner Jugendliebe Klara Sax in der Wüste begegnet, wo sie strategische Bomber zu Kunst verarbeitet. Von hier aus bewegen wir uns in ungleichmäßigen Schritten zurück bis zu jenem 3. Oktober 1951. Doch Shaws Leben, erzählt bis zu seiner Kindheit in der italienischen Bronx der fünziger Jahre und dem Schuß, mit dem er versehentlich einen Freund tötete, ein Echo des größeren Knalls, stellt nur das Skelett des Romans dar. DeLillos Erzählstruktur läßt sich mit der in Robert Altmans "Short Cuts" vergleichen. Doch anders als bei Altman treten DeLillos Figuren oft nur kurz in die Atmosphäre des Romans ein, driften aneinander vorbei wie Planeten und sind doch verbunden, jeder auf seine Weise kontaminiert vom Fallout der Geschichte - oder der ersten Atombombentests.

Ein Chor von Stimmen erhebt sich. Wir hören den Baseball-Geschichtsschreiber Marvin Lundy, der dem verschollenen Ball nachjagt, als enthielte er die Lösung aller Rätsel, Nicks Bruder Matt, der in einem Bunker in Arizona Waffen baut, deren Zweck ihm selbst unbekannt ist, den Vietnampiloten, der des Napalmsprühens müde ist, den Texas-Highway-Killer, der wahllos Autofahrer abknallt, und Dutzende anderer Figuren. Sie alle sind gefangen in durchgedrehten, aber in sich plausiblen Welterklärungen, in paranoiden Versuchen, die geschichtliche und die individuelle Erfahrung zu versöhnen.

Auch die Erzählstruktur selbst folgt, wie in den Romanen Thomas Pynchons, einer paranoiden Logik. DeLillo mischt tatsächliche mit erfundenen Geschichtspartikeln, zoomt jäh von Stadion- oder Wüstenperspektive auf winzige, in verstörender Intensität dargestellte Details und stellt zwischen allem Beziehungen her, die ebenso Sinn machen wie Wahnsinn. Die Ironie früherer Romane wie "Weißes Rauschen" ist dabei einem ernsteren und wärmeren Ton gewichen. DeLillo, der heute 61 ist, bringt einen seltener zum Lachen, dafür ist es jetzt noch schmerzhafter, beispielsweise wenn die verkrüppelten kasachischen Strahlenopfer aufgrund eines fehlgeschlagenen Textiliendeals sämtlich T-Shirts eines Hamburger Schwulenfestivals tragen. DeLillo untersucht nicht den Zustand der Welt, sondern spricht in den Reimen, die sich seine Figuren darauf machen. Auch die Sprache ist Geschichte von unten. DeLillo erweckt ausgestorbene Dialekte und Soziolekte der Italiener in der Bronx, der Baseballreporter und der Werbeleute von der Madison Avenue wieder zum Leben. Gemeinsam ist ihnen eine schwer greifbare, sehr bewegende Dringlichkeit, die bis zum vorletzten Wort des Romans nicht nachläßt.

DeLillos Buch ist dick, aber man wünschte, es wäre noch viel dicker. Wenn es eines Beweises bedurfte, daß die Literatur lebt, und daß sie es auch mit dieser Welt aufnehmen kann: hier ist er. Die Schärfe, mit der er die Realität entziffert, die Natürlichkeit, mit der er montiert und arrangiert, seine Intelligenz und Menschlichkeit, die Musik seiner Sätze, der ganze Reichtum dieses Buches läßt einen die Welt mit neuen Augen sehen und bringt einen für Wochen zum Schwingen. Darauf hat man lange gewartet.

Don DeLillo: "Unterwelt". Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 966 Seiten; 54 Mark.

© SPIEGEL ONLINE 1998

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