Licht am Ende der Nacht Unterkühlte Szenenfolge aus dem zerstörten
München:
Gert Ledigs Nachkriegs- Roman "Faustrecht" Was bleibt vom Menschen, wenn er, als Soldat, Bunkerexistenz, Flüchtiger aus brennenden Städten, dem Nichts begegnet ist? Im Anfang, nach dem Wendepunkt zum
lange noch nicht Besseren, wenig mehr als der Drang zu überleben – und vielleicht eine Restmoral. Für Millionen Erdbewohner, Volksgruppen, ganze Völker gibt es kein anderes Dasein. In Deutschland wissen nur noch jene
von ihm zu reden, die die "Stunde Null" und die Trümmerzeit erlebt haben. Noch fließt der Strom der mündlichen Überlieferung, aber eines nicht mehr fernen Tages wird man auf die Bücher von Schriftstellern
angewiesen sein, die damals, in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, um Authentizität bemüht, die vom Ethos des "Kahlschlags" durchdrungen waren. "Inventur" hieß ein Stichwort, Günter
Eich gab es aus in seinem berühmten Gedicht, und es verpflichtete, nichts zu benennen als das, was alle erlebten, den Ruinen- und Heimkehreralltag und die verbliebenen oder gehamsterten Armseligkeiten, in denen das
Trümmerwerk der Seelen sich spiegeln mochte. Bei keinem freilich, der in dieser Zeit über die Tatsachen des Lebens schrieb, sei es Böll, Borchert oder Hermann Stahl, war selbst das Pathos der Existenz auf so kleiner
Flamme wie bei dem kürzlich erst wiederentdeckten Gert Ledig (1921–1999). Ledigs kurzer Ruhm zu Lebzeiten gründete vor allem auf seinem ersten Roman "Die Stalinorgel" (1955), der am Beispiel eines
aussichtslosen Stellungskampfes um einen Erdhügel die ganze Sinnwidrigkeit des Krieges parabolisch aufscheinen ließ, die Zeitgenossen aber wohl in erster Linie aufgrund seiner naturalistischen Qualitäten und eines
"Objektivismus" erreichte, der sich generalisierender Urteile enthielt. Mit den beiden folgenden Büchern hatte Ledig weniger Glück: Die Reaktionen auf seinen Roman "Die Vergeltung" (1956), der die
Horrorszenarien des Bombenterrors und der Gruppendynamik in einem Luftschutzkeller schonungslos evozierte und, nicht zuletzt infolge der von W.G. Sebald initiierten "Luftkriegs"- Diskussion, die gegenwärtige
Ledig-Renaissance eingeleitet hat, zeigen bereits die Entschlossenheit zur Verdrängung. Vollends in Ungnade fiel er mit "Faustrecht" (1957), einem "amerikanisch" verknappten Schwarzmarkt- Krimi, der
die (nie als Trilogie konzipierte) Trias über die Folgen des Krieges beschloss und zugleich die letzte größere Prosa war, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Dass Ledig in dieser untertemperierten
Szenenfolge aus dem zerstörten München die Repräsentanz des Nachkriegselends an Existenzen übertrug, die sich jenseits der "anständigen" Gesetzlosigkeit der frühen Jahre bewegten, und – nicht anders als in der
vielgepriesenen "Stalinorgel" auch – einen ideellen Hintergrund verweigerte, wurde nun auf der Negativseite verbucht: als moralisches und künstlerisches Defizit in Westdeutschland, wo er seiner kommunistischen
und linkskatholischen Neigungen wegen zunehmend für einen unsicheren Kantonisten galt, als Mangel an Entschiedenheit für die richtige Sache in der DDR, die ihn anfangs ein wenig umwarb, in ihren Akten aber bald als
ideologischen Wirrkopf führte. Nun liegt "Faustrecht" wieder vor. Eine herbe kleine Geschichte um einen großen Coup, der übel ausgeht, am übelsten – nämlich tödlich – für den, der ihn am wenigsten wollte:
Das ist Edel, ein Maler mit zertrümmerten Händen, der sich überdies "bei einem Sturz im Krieg" die Zähne ausgeschlagen hat, was seinem Gesicht einen Ausdruck von "stupider Beschränktheit" verleiht,
wie Rob, der Erzähler des Buches konstatiert. Der Dritte im Bund führt den Spitznamen Hai: ein Routinier im Ausplündern amerikanischer Armeelastwagen, dessen kriminelle Energie die ganze Sache ins Rollen bringt. Rob,
offensichtlich an seinem äußersten Indifferenzpunkt angelangt, zieht mit, Edel, dem Hai in scheinbarer Großmut eine Runderneuerung seines Gebisses vorfinanziert hat, lässt sich pressen. Und dann geht alles schief: der
Nachschubwagen, den Hai von einer Brücke ins Wasser zu befördern gedachte, kippt um, aber stürzt nicht ab. Der Beifahrer, unverletzt geblieben, eröffnet das Feuer, Edel wird an der Wade getroffen, doch gelingt den
dreien die Flucht. Die Kraft des Lapidarstils Sie verbunkern sich mit Olga und Katt, zwei jungen Frauen, die sich als Prostituierte durchschlagen und zu viel wissen. Rob und Olga lieben sich, Edel und Katt
bekriegen sich, erst am Ende ahnt der Leser, dass auch das eine Art von Liebe war. Vergebens bemüht sich Rob, Tetanus-Impfstoff aufzutreiben, nachdem er auf Edels Gesicht das "höhnische Grinsen", die ersten
Symptome des Wundstarrkrampfs entdeckt hat. Hai dreht einige Male den Gashahn auf, um sich der beiden Mitwisserinnen zu entledigen, Rob dreht ihn immer wieder zu. Die Aggressivität der beiden gegeneinander steigert
sich, und Hais wachsende Nervosität, die mit der zunehmenden Klarheit und Selbstgewissheit – man kann auch sagen: Läuterung – Robs kontrastiert, macht ihn unberechenbar. Kein Zweifel: Er ist verworfen, seine Rohheit ist
nicht nur Folge des Krieges. Und doch – ein Mensch auch er in seinem Widerspruch – macht Hai zuletzt, statt sich abzusetzen, einen Arzt ausfindig, der zugleich Priester und damit ans Schweigegelübde gebunden ist. Zu
diesem Zeitpunkt aber lebt Edel schon nicht mehr. Er stirbt, bevor er die bereits eingeleitete Konversion zur katholischen Kirche vollziehen kann, bevor sich geklärt hat, ob er den Judaslohn – das neue Gebiss –
auszuschlagen vermag oder nicht. Für die anderen geht es glimpflich aus: Robs Rivale um die Gunst der Geliebten, ein amerikanischer Leutnant, hat den Verdacht von der Gruppe abgewendet. Sie werden ihrer Wege gehen
können, jeder allein, denn Olga, weniger aus Dankbarkeit als aus lebenspraktischen Erwägungen, entscheidet sich gegen die Liebe. Das ist der Plot. Die Provokationen, die einmal von ihm ausgegangen sein müssen, sind
nur noch archäologisch rekonstruierbar, was der Wirkung des Buches keineswegs abträglich ist. Denn so wird der Blick frei für den Nuancenreichtum, die Evokationsdichte und atmosphärische Kraft eines Lapidarstils, der
sich ans Hör- und Sichtbare hält, an die Bilder einer verwüsteten Stadt, an Taten, Dialoge und die stumme Beredsamkeit von Figurenkonstellationen im Raum. Es nimmt nicht wunder, dass dem Roman, wie Volker Hage im
Nachwort vermerkt, eine Theaterfassung vorausging. Wie ein Film oder eben eine Bühnenhandlung läuft das Drama dreier Tage vor dem inneren Auge des Erzählers ab. Kaum ein Gedanke, der nicht "interaktiv"
umsetzbar, einem Gesicht, einem Blickwechsel einschreibbar wäre – kein Schauplatz, der sich nicht mithilfe symbolischer Möblierung in den nächsten verwandeln ließe. Eine kurze Szene, ein paar Wechselreden, und man ist
im Bild, sieht, fühlt, schmeckt die Zeit: die Kasinos der Besatzer, die Wartezimmer, die Straßenbahnwaggons, aus dem die Menschen wie Trauben quellen, die kahlen Läden, in dem sich ausgemergelte ältliche Frauen mit
gehässigen Anspielungen über "Ami"-Liebchen verbreiten, und hinter allem die surreale Kulisse Münchens, das damals, man glaubt es kaum, für eine der gefährlichsten Städte Deutschlands galt.
"Faustrecht" ist ein symbolischer Tatsachenroman. Seine Protagonisten sind "Mitläufer" und in den Novembertagen des Jahres 1945, in denen wir ihnen begegnen, von nichts so weit entfernt wie der
Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Und doch: Ganz erloschen ist wohl nicht einmal die Seele Hais. Wer über dem Sog dieses temporeichen Buchs aufmerksam bleiben kann auf die mitmenschlichen Regungen, die Zartheit
und Scheu hinter ruppigen Reden, wird bemerken, dass kein Funke des Guten verloren geht und verloren gegeben wird. Und ganz am Schluss, wenn alle Wege sich trennen, setzt Rob dem "Faustrecht" ein Ende, scheint
etwas auf, was ein Versprechen auf eine bessere und rechtlichere Zukunft sein könnte: "Hai stand neben mir. ‚Und was willst du jetzt tun?‘, fragte er. ‚Was Besseres!‘ Ich drehte mich um. Er und Katt blieben
hinter mir zurück. Der Schnee glitzerte, und vor mir leuchtete ein erstes Licht." ANDREAS NENTWICH
GERT LEDIG: Faustrecht. Roman. Nachwort von Volker Hage. Piper Verlag, München 2001. 230 Seiten, 36 Mark.Donnerstag, 19.4.2001 |