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Eine isländische Reise in das Herz der Finsternis
"Nach Island" - Ein Roman von Guðmundur Andri Thorsson. In dem 1996 erschienenen Roman "Íslandsförin" (dt. "Nach Island") erzählt der Autor Guðmundur Andri Thorsson
die Geschichte eines englischen Gentleman, der am Ende des 19. Jahrhunderts eine Reise nach Island unternimmt. Auf der Suche nach seinen Wurzeln, nach seiner Familie. "Ich trat in meine eigene
Geschichte ein, meiner Mutter entgegen." Er sieht das Land in einem magischen Licht, aber tief in seinem Innern, weiß er, daß etwas sehr persönliches, mysteriöses ihn mit Island verbindet. "Es ist das Land, das meine Mutter gebar, und sie ging erst zugrunde, als sie nach England kam, und dennoch war sie empfindsam, jung und hilflos. Die Winde dieses Landes brausen durch meine Adern,
sein Feuer wohnt in meinem Geist. Eis und Felsen formen mein Gemüt. Die Seele dieses Landes ist meine Seele, und ich bin kein Primitiver. Ich muß zur Mitte dieses Landes vordringen und seine Seele finden, sonst gehe ich
zugrunde. Ich bin dieses Land." Mit seiner außergewöhnlichen Fertigkeit im Erzählen und beim kombinieren von Reisebericht, historischem Roman und psychologischem Drama, hat Guðmundur Andri Thorsson
es möglich gemacht, ein Werk zu schaffen, das bis zur letzten Seite geheimnisvoll bleibt. Es ist nicht nur ein Reisebericht in ein geheimnisvolles, mystisches, von Sagen durchwobenes, von Elfen und Trollen bewohntes
Land, sondern auch eine Reise auf der Suche nach sich selbst; ein politisches Buch; ein Entwicklungsroman und eine Kriminalgeschichte. Sehr stark erinnert dieser Roman an die Novelle von Joseph Conrad
"Heart of Darkness" (Das Herz der Finsternis), in der Joseph Conrad eine Expedition ins Innere Zentralafrikas beschreibt. Bei Conrad und bei Thorsson ist es eine abenteuerliche Reise in die Nacht der ersten
Zeitalter. "Ich glaubte, unterwegs zu sein in ein fremdes Jahrhundert, zu einer Begegnung mit einer hilflosen Menschenrasse der Urzeit, jenseits von Zeit und Tod. Ich war auf dem Weg hinein in das
Land. Ich war auf dem Weg in das Ungewisse." Vorweltliches und Gegenwärtiges scheinen sich zu durchdringen, die Reisen (bei Conrad ins Herz des schwarzen Kontinents, bei Thorsson, in das zu
damaliger Zeit schwierig zu bereisende Island, ein unwirtliches Land, aus Feuer, Eis, Weiten, Einöden und Bergen, nehmen immer deutlicher den Charakter einer Entdeckungsreise ins Halb- und Unterbewußte an. Hier wie dort wird beim Schreiben mit mythensüchtigem Exotismus (wobei uns Island und die nordische Mytholgie wohl näher liegt als Afrika und seine Mythen); unaufdringlichen Symbolen aber auch mit
realistischer Objektivität gearbeitet. Bei Conrad ist es die symbolistische Überhöhung der Urwaldlandschaft, bei Thorsson die Sagenwelt und die Landschaft der vulkanischen Insel, zum seelischen Schicksalsraum. Dies
entspricht dem Parabelcharakter des melodramatischen "Abenteuers". (..daß hier die furchtbare Hand der Schöpfung selbst am Werk war. Mir wurde Einblick in den Mittelpunkt der Welt gewährt, in
den Abgrund selbst, der magisch lockt. Eine unheimliche Kraft, gegen die ich nicht anzukämpfen vermochte, zog an meinen Beinen.) Der Ich-Erzähler segelt nach Island, um dort zu erfahren, wo seine Wurzeln
liegen, wo er vielleicht jemanden findet, der ihm nicht ängstlich ausweicht, wenn er nach seiner Mutter fragt. "Es ist, als ob ich mich im Land der Erinnerungen befände. Und doch scheint es hier keine Erinnerungen
an mich zu geben." Er sucht die Frau, die sein Vater zur Frau nahm, die ihn gebar, als sie starb. Doch sie ist nicht Tod. Die isländische Magd, die einem englischen Lebemann begegnete, ihm an einem
regennassen Abend die Kleider vom Leibe zog und sich dann zu ihm ins Bett legte. Neun Monate später, als der Junge geboren wurde, brachte sie ihn zu seinem Vater nach England. Sie kehrte zurück nach Island, verdingte
sich weiter hier als Magd. Joseph Conrads Novelle "Herz der Finsternis" unterlag vielen Deutungsversuchen. Urs Widmer faßt sie in einem Nachwort zu einer Neuausgabe des Buches im Haffmans
Verlag zusammen: "So ist Marlows Fahrt gewiß zu Recht als eine Reise in die Zeit beschrieben worden, zurück zu den Ursprüngen, aus der unsere Triebe kanalisierenden Zivilisation in eine Welt, die
keine Schranken und Fesseln kennt, in der ekstatische Erfüllung und gräßlichste Grausamkeit eins sind, als ein regelrechter Gang ins Innere der Erde hinunter, ins Totenreich, als eine Reise zu den Schatten der Hölle,
des Paradieses vielleicht gar, zu unseren Urahnen, die wir nicht mehr verstehen, ja, als solche kaum noch erkennen. Als ein Gang zu den Müttern, im metaphorischen und wohl auch im ganz konkreten Sinn, zur Mutter,
zur archaischen Mutter - die, alles spendend und alles vermögend, dem Kind Alles und Jedes ist -, eine Reise in jenen "dunklen Kontinent" ganz allgemein, von dem Siegmund Freund eins sprach, zu den Frauen
also, ihrer geheimnisvollen Sexualität." Und seiner Mutter gestand er alles. Und sie "...lauschte meiner Erzählung, wie ich und Charlotte (seine Geliebte) das Leben Roberts zerstörten. Wie
unglaublich leicht es uns fiel." Der Grund seiner Reise, die Flucht aus England, hervorgerufen durch die unvorhergesehen und sonderbaren Ereignisse, die zum Tod seines Kameraden Roberts geführt hatten. "Ich
dachte an Robert und an sein im Tode erstarrtes Gesicht, schmeichlerisch im Tod, triumphierend im Tod, wie er mit dem Hut auf dem Kopf in der Schlinge baumelte, wie ihm der Hut vor meinen Augen plötzlich vom Haupt fiel,
so daß man sein Gesicht anstarrte, vom Tod entstellt, in den ich ihn getrieben hatte, in den wir ihn gemeinsam getrieben hatten, wir beide, die wir uns nie mehr berühren sollten, ohne die Kälte um uns zu spüren."
Er trägt an dieser Schuld. "An diesem Tag vor zwei Monaten sprang ich. Und ich falle immer noch". Eine weitere Hauptperson ist ein Freund des Erzählers Cameron. Dieser Cameron verkörpert den
nüchternen logischen Europäer im Gegensatz zum Erzähler, der von der Mystik Islands befallen wird. Cameron argumentiert mit den Thesen Darwins, die damals neu waren. "Der Mensch - sagt Cameron - entwickelt sich
genauso wie Echsen und Vögel und Fische durch die Auseinandersetzung mit seiner Umgebung, er reagiert: Alle Tiere versuchen, sich ihre Umgebung erträglich zu machen, und vergrößern dadurch ihre Lebenschancen und die der
Ihrigen. Cameron und der Erzähler wirken wie zwei Varianten menschlichen Verhaltens in einer exemplarischen Auseinandersetzung. Beide - der skeptische Moralist und der pervertierte Idealist - verkörpern extreme und doch
gleichsam dialektisch konzipierte Möglichkeiten. Vor allem der Erzähler erleidet die tiefste Erfahrung menschlichen Ausgeliefertseins an die Abgründigkeit der Existenz.
In einem langen Monolog philosophiert er über das Wissen, das Glück über "Gott und die Welt". "...alles Denken der Menschen zielt darauf ab, die Verbindung zur Mutter Erde zu lösen. Man
strebt nach Wissen, immerzu nach mehr Wissen über die Gesetze der Natur, um so noch mehr Macht über sie zu erlangen. Und wozu? Um ein erfüllteres, reicheres Leben zu führen? Um Glück zu erwerben? Nein: um Luxus zu
erwerben. Der westliche Mensch verwechselt Luxus mit Glück. Hier (auf Island) sind wir primitiven Verhältnissen ausgesetzt, wir müssen uns selbst unsere Beute jagen, unser Lager ist hart, aber dafür ist uns vielleicht
für einen Augenblick vergönnt, den Herzschlag der Erde zu spüren. Das bereitet uns Glück. Die Menschen aber kümmert das nicht. Die Menschen von heute wissen nichts. Und am allerwenigstens diejenigen, die mit sogenannten
wissenschaftlichen Methoden nach Weisheit streben. Sie haben keine Ahnung von dem, was in der langen Kette, aus der das Leben gesponnen ist, über ihnen steht. Und so muß es auch sein, so wurde es eingerichtet. Der
Mensch wurde nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, heißt es. Und dem Mensch wurde die Gabe verliehen, die Wunder der Schöpfung zu enträtseln: Wer weiß, vielleicht wird es dem Menschen in hundert Jahren gelungen
sein, das Fliegen zu erlernen? Und was wird er dadurch gewinnen? Nicht Seelenruhe, nicht Frieden, sondern nur, daß keiner mehr bei sich zu Hause verweilen mag. Die Menschen werden ihre Wurzeln verlieren, ihr Leben
bekommt keine Nahrung mehr, und die Gesellschaften lösen sich auf...Ihr Wissen werden sich die Menschen zunutze machen, um ihre Mitbrüder zu bestehlen, ihnen das zu nehmen, wonach es sie gelüstet. Entsetzlichere
Waffen werden erfunden, als wir uns vorzustellen vermögen. Und man wird sie gebrauchen. Die Völker werden einen blutigeren, einen grauenvolleren Krieg entfachen als je zuvor. Und all das wird geschehen, weil die
Menschen nach dem Luxus des Augenblicks streben und ihn mit dauerhaften Werten verwechseln, weil sie das Bestreben, sich die ganze Welt anzueignen, mit den echten Werten verwechseln. Der Mensch war immer bestrebt, sich
die ganze Welt anzueignen, selbst wenn er dafür seine Seele hingeben mußte, denn stets hat er sich darauf verlassen, seine Seele wiedererlangen zu können, später. Das ist nicht, weil der Mensch schlecht ist, sondern
weil er nicht gut ist. Und so verkörpert sich in diesem Roman in der Figur des Erzählers, sowie bei Conrad in der Figur des Marlow, eine skeptische, sich des Inhumanen bewußte Humanität. Aber es
bleibt der Verdacht, "das Ziel der Schöpfung könnte kein ethisches sein." Ein Satz, über den ich nachdenken möchte: Gott starb an dem Tag, als der Mensch die Notwendigkeit verspürte, seine
Existenz zu beweisen. Ein Gott, der sich niemals bemerkbar macht, kann nur Tod sein. Gudmundur Andri Thorsson “Nach Island” Klett-Cotta Verlag 2000
02.12.00 |