Die junge britische Autorin Zadie Smith beschreibt in ihrem Debütroman den turbulenten Alltag zweier Nordlondoner Familien zwischen Multikulti und Rassismus. Jetzt wurde sie für den
renommierten Whitbread-Preis nominiert.Auch wenn in England der Einkauf in Cornershops ihrer indisch- oder pakistanisch-stämmigen Landsleute zum Leben gehört wie Fish and Chips, ist die Insel keinesfalls ein
süßlicher Multikultikuchen. Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und Rassismus seitens der Polizei - wie im Stephen-Lawrence-Report und in aktuellen internen Untersuchungen beschrieben - sind leider ebenso alltäglich.
Zornige Autorin: Zadie Smith
Doch die Veränderungen in den Familienstrukturen der urbanen Mittelschicht haben inzwischen zu überraschenden Wenden geführt: Die "Daily Mail" beispielsweise, die gerade noch
mit Erfolg für die Wiedereinstellung eines wegen rassistischer Äußerungen entlassenen Polizisten kämpfte, meinte die guten alten Familienwerte vor allem bei Einwanderern zu entdecken. Gleichzeitig wächst das
Selbstbewusstsein der Imigrantenkinder. Junge, radikale Bands wie die "Asian Dub Foundation" ("Es gibt keine illegalen Einwanderer, es gibt nur illegale Regierungen!") ließen Reporter wissen, dass
sie "der wahre Britpop" sind, und fordern: "The real Great Britain step forward!"
In diese Kerbe schlägt auch die 25-jährige Londonerin Zadie Smith mit ihrem Debütroman "White Teeth".
Der Anfang letzten Jahres erschiene Erstling wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und erhielt prompt eine Reihe literarischer Auszeichnungen: den Guardian First Book Award 2000 und den Whitbread First Novel Award
2000. Nun ist das Buch, dessen deutsche Ausgabe nächsten Monat bei Droemer/Knaur erscheint, auch für den mit 22.500 Pfund dotierten Whitbread Book of the Year Award nominiert. Auf 460 Seiten versucht die Autorin der
Komplexität des heutigen Großstadtalltags auf die Spur zu kommen - was ihr trotz einiger Längen überraschend gut gelingt.
Einer der Gründe dafür ist die Genauigkeit, mit der sie ihre überzeugenden Charaktere und
deren nicht immer erfreulichen Lebensumstände schildert. Als sozialer Aufstieg gilt dort bereits ein Umzug von der falschen Seite von Whitechapel auf die falsche Seite von Willesden. Bei Zadie erfährt man, wer die
"Raggastanis" sind, warum afrikanische Göttinnen aus Clapham Nord kommen oder wie es in den Siebzigern in den Raucherecken der Gesamtschulen zuging und welche Klientel sogar noch den letzten Zug einer vorher
bereits mehrfach geteilten Zigarette schnorrt. Dazu gelingt es ihr, die unterschiedlichsten Dialekte und Slangs genau zu treffen und so den beschriebenen Charakteren und Konflikten den Anstrich von Authentizität zu
verleihen.
Bald auch auf Deutsch: "White Teeth"
Ihre Helden kämpfen mit den kleinen und gegen die großen Versuchungen der Großstadt. Da ist zum Einen der aus Bangladesch stammende Moslem Samad Iqbal, der
sich als einhändiger Kellner durchschlägt und vergeblich versucht, den sündigen Versuchungen der dekadenten westlichen Welt in Form von Alkohol und einer hübschen Musiklehrerin zu entkommen. Samad hat zwei Söhne im
Schulalter: Millat, der sich auf den Straßen herumtreibt und auf der Suche nach Orientierung bald in die Fänge islamischer Extremisten gerät. Die wiederum haben zwar für jedes Problem ein passendes Flugblatt, mit ihrem
eigenen Akronymproblem kommen sie jedoch nicht klar. Denn was ergeben die Initialen ihrer Organisation "Keepers of the Eternal and Victorious Islamic Nation"? Genau: "KEVIN". Auch Millats
Zwillingsbruder Magid Iqbal nimmt eine andere Entwicklung als geplant: Vom Vater nach Bangladesch geschickt, kehrt er statt als braver Moslem als atheistischer, anglophiler Intellektueller zurück.
Turbulent geht es
im Leben von Irie Jones zu, die ausgerechnet draufgängerischen Mädchenschwarm Millat Iqbal anhimmelt. Ihr Vater, der mit Samad Iqbal im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat, ist ein gescheiterter Radprofi und zynisch
geworden, während ihre jamaikanische Mutter Clara als Zeugin Jehovas frömmelnd auf den Weltuntergang wartet. Das Chaos ist perfekt, als die beiden Arbeiterkinder Irie und Millat vom Schulleiter zwecks Besserung ihres
Betragens und ihrer schulischen Leistungen in einen britisch-snobistischen Akademikerhaushalt einquartiert werden. Das führt zu unüberwindbaren Problemen - insbesondere mit dem Familienoberhaupt Chalfen, der als
Genetiker der Schöpfung unter die Arme greifen will.
Obwohl der Erfolg ihres Buches der Autorin nicht nur ein Eigenheim in Kilburn, sondern auch Angebote aus Hollywood eingetragen hat, ist sie eine zornige junge Frau
geblieben: Der mit 30.000 Pfund dotierte Orange Prize für Frauenliteratur war ihr zu irrelevant, dazu missfiel ihr, dass Ffion Hague, Ehefrau des konservativen Oppositionsführers William Hague, Mitglied der Jury war.
"Klar mag Ffion das Buch, und bestimmt kann sie auch eine Baseball-Mütze verkehrt herum aufsetzen - das ist genau der Notting-Hill-Carnival-Multikulti-Kram. Ffion Hague kann mich mal", polterte die
meinungsstarke Autorin im Gespräch mit der BBC. Als Sprachrohr und Vorbild für andere betrachtet sich die Tochter einer Jamaikanerin und eines Engländers jedoch nicht: "Meiner Meinung nach sollten Schwarze sich
über einen Mangel an Vorbildern freuen und einfach ihr eigenes Ding machen. Sicher ist jemand wie Will Smith ein Vorbild - wenn man rappen oder Action-Filme machen will. Ansonsten ist er einfach eine
Platzverschwendung."
Wer übrigens von Zadie Smiths Erfolg profitieren möchte, sollte sich getrost an eine Institution wenden, die ebenso zum englischen Alltag gehört wie das eine oder andere Chicken Tikka
Masala: Bei William Hill stehen die Wetten auf die als Favoritin für den Whitbread-Preis geltende Autorin derzeit bei sieben zu vier.
Zadie Smith: "White Teeth". Penguin, Hamilton 2000. Deutsche Ausgabe:
Droemer/Knaur, übertragen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Erscheinungsdatum Februar 2001
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