Ruckh-Juergen
Literatur
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Island
Person
Steinunn Sigurdardottir

Reise ins Herz der Verlässlichkeit

Mit einer kraushaarigen Heldin unterwegs in Island –                                                    Steinunn Sigurdardóttirs Roman "Herzort"

Der Anfang ist ebenso lakonisch wie beklemmend. Die Erzählerin befindet sich im Aufbruch. Vor der Tür wartet Freundin Heide in einem weißen Pick-up mit dem Hausrat. Für den Nachmieter wird die Wohnung kurz durchgeputzt – um die fünfzehnjährige Tochter herum, die auf dem Fußboden liegt und ihren Rausch ausschläft. Die Reise gilt ihrer Rettung. Sie soll aus Reykjavik, wo sie in schlechte Gesellschaft geraten ist, zu Verwandten in die heile Welt der Ostfjorde fortgebracht werden. Noch steht nicht fest, ob Edda wirklich mitkommt. Es wird während der ganzen langen Fahrt auf der Ringstraße, die rund um Island führt, ungewiss bleiben, ob das Mädchen nicht die nächste Gelegenheit ergreifen wird, zu seiner Clique zurückzukehren, die dem Pickup hartnäckig folgt.

Ein nordisches road movie: drei Frauen – genau genommen vier, die tote Mutter der Erzählerin mischt sich immer wieder in den Dialog ein – unterwegs in einer Natur, die so unwirtlich und unberechenbar ist, dass sogar die spätsommerliche Fahrt auf einer gut ausgebauten Straße von Angst grundiert ist. Auch die schönste Aussicht auf schneebedeckte Gipfel kann die historische Erfahrung menschlicher Ohnmacht nicht verdrängen. Liegt der letzte Vulkanausbruch auf Heimaey nicht gerade zwanzig Jahre zurück? Der ständige Kampf ums Überleben, so das Stereotyp, macht die Menschen in Island hart, aber auch solidarisch.

Dieser Motivkomplex bindet Steinunn Sigurdardóttirs Roman "Herzort" in die Tradition der isländischen Literatur ein, die zuletzt in Halldor Laxness ihren nobelpreisgekrönten Repräsentanten gefunden hat. Was die Autorin – seit ihrem ersten Roman "Der Zeitdieb" (1988, deutsch 1997) – zu einer herausragenden Vertreterin der modernen isländischen Literatur macht, ist ihr Umgang mit den Stereotypen. Sie klopft sie ab auf ihre Substanz, reagiert damit auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die Island eingeholt haben, seit Fernsehen und Flugverkehr die übrige Welt erreichbar gemacht haben und auch Reykjavik eine Großstadt mit einer alkohol- und drogengefährdeten Jugendszene geworden ist.

Freundin Heide, trotzt am Steuer zwar Sandsturm und Nebel, doch als das Kid auf dem Rücksitz der Mutter in die Haare greift, kommt sie von der Fahrbahn ab. Harpa, die Erzählerin, ist dreißig, also doppelt so alt wie ihre Tochter, die dem "ersten Mal" mit einem Schulkameraden entstammt. Harpas eigene Herkunft ist zweifelhaft – alles spricht dagegen, dass Papa Axel, der jetzt im Altenheim lebt, ihr Erzeuger ist. Die spirituelle Mutter aber leugnet über das Grab hinaus. Harpa ist eine Ausnahmeerscheinung unter den langwüchsigen, blonden Isländern – sie ist klein, dunkelhäutig und kraushaarig. Diese Konstellation ist eine ironische Variante des traditionellen nordischen Familiendramas, in dem junge Mädchen der Sünde verfallen, und zugleich sehr zeitgemäß, denn Harpa, die prototypische Fremde, die "Asylantin, bevor es hier Asylanten gab", bringt ihre Tochter als alleinerziehende Mutter durch.

Die Distanz, mit der über Harpas Einsatz, die Selbstzerstörung ihres Kindes aufzuhalten, berichtet wird, die Selbstironie der Erzählerin, die ihre Wut und ihre Verzweiflung nur dem Leser zur Kenntnis gibt, macht einen großen Teil der Faszination aus, mit der man diese eher herbe Begebenheit verfolgt. Ob sie nun Dialogwitz entfaltet, Landschaften skizziert, Metaphern komponiert und in Alltagsbemerkungen kontrapunktiert oder Inneneinrichtungen, Bekleidung, Mahlzeiten, Wetterlagen minutiös schildert – Steinunn Sigurdardóttir flicht all diese Elemente kunstvoll zu einem Textgewebe voller Überraschungen. Die Autorin hat über Jahre nur Gedichte geschrieben – deren Rhythmus werden hier in eine sprachbewusste Prosa überführt.

Freilich ist auch der "Herzort" in den Ostfjorden, wo Edda sich selbst wiederfinden soll, ein zweifelhaftes Idyll. Zwar mag das Kind bei Cousin Ingólfurs Familie gut aufgehoben sein. Auch hat Harpa endlich das Geheimnis ihrer Herkunft lösen können, da der wackeren Tante Dyrfinna noch nie eine Lüge über die Lippen gekommen ist. Doch nun sinnt sie ausgerechnet im Herzen der menschlichen Verlässlichkeit auf Verrat...

SYBIL WAGENER

 STEINUNN SIGURDARDÓTTIR: Herzort. Aus dem Isländischen von Coletta Bürling. Ammann Verlag, Zürich 2001. 480 Seiten, 44 Mark.

Dienstag, 17.4.2001

Süddeutsche Zeitung vom 17.04.2001

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