Ruckh-Juergen
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Graenalon

Zur grünen Lagune

-Der Grænalón-

"We must sail a little". Ich sah Hannes Jónsson an. Gerade erst aus dem Bus von Skaftafell ausgestiegen, packte er meinen Rucksack und hievte ihn in seinen Van. Nun saß ich neben ihm und wir fuhren die paar Meter hinauf zum Hof Núpsstaður. Ich sah Hannes an. "Sail, Segeln"?, dachte ich. Ich verstand nicht. War ich doch nach Núpsstaður gekommen, um von dort nach Núpsstaðarskógur zu fahren – mit dem Bus. Und nun segeln? Aber bevor ich noch weiter darüber nachdenken oder ihn fragen konnte, hielt er schon an.

Núpsstaður. Ich war schon zweimal hiergewesen am Hof Núpsstaður, der überragt wird von dem alten Kliff Klaufardrangur und dem eindrucksvollen Felsen Lómagnúpur. 767 m erhebt sich dieser Fels, der ehemals Teil der Küste war, bevor Gletscherläufe und Landhebungen die Uferlinie weiter nach Süden vorschoben. Einige der älteren Gebäude des Hofes stammen aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts oder gehen auf noch ältere Gebäude zurück. Am interessantesten ist das Gebetshaus (bænhus), das diese Bezeichnung trotz seiner früheren Funktion als Kirche trägt; sie ist eine der wenigen, noch erhaltenen Grassodenkirchen Islands. Das Dach wird unter der Grasdecke aus Steinplatten gebildet, während das Gebäude innen mit waagrechten, aus Treibholz gesägten Planken verkleidet ist. 35 Personen finden auf engstem Raum darin Platz.

Feuerpredigt

Die Kirche in Núpsstaður; einst dem Hlg. Nikolaus geweiht, wird in den Registern von Bischof Páll Jónsson um das Jahr 1200 genannt, und 1340 im Inventar des Episkopats. Seit 1657, als ein gewisser Einar Jónsson die Kirche renovierte, ist ihr Erscheinungsbild fast unverändert geblieben. Während des Vulkanausbruchs Skaftáreldar (Skáftafeuer) predigte hier am 7.9.1783 der "Feuerpfarrer" Jón Steingrimsson. Von ihm heißt es, daß er am 20.7.1783 in Kirkjubæjarklaustur eine Predigt hielt, seine berühmte Feuerpredigt, die den die Siedlung bedrohenden Lavastrom aufhielt. Über den Gottesdienst in Núpsstaður schrieb er: "War der Aschefall so stark, daß in der Kirche eher Finsternis als Dunkelheit herrschte".

Auf dem Friedhof hinter dem Gebetshaus findet sich eine fünfkantige Basaltsäule ca. 130 cm lang. Es handelt sich um einen alten Grabstein mit der Inschrift: "Hier ruht Kristin Valentinusdóttir". Lapidar heißt es über sie: "Weiteres ist von ihr nicht bekannt".

Nachdem ich mir die Kirche noch einmal angesehen hatte ging ich zurück zu Hannes Jónsson. Inzwischen waren noch einige Isländer angekommen, die ebenfalls nach Núpsstaðarskógur wollten. Der Van war gut besetzt, als es schließlich losging. Noch einmal sagte er zu mir: "We must sail. The bus was not here". Ich nickte. Noch wußte ich nicht, was auf mich zukommen sollte. Wir fuhren wieder auf die Straße Nr.1 und dann kurz nach dem Felsen Lómagnúpur bogen wir ab und es ging in Richtung Skeiðarárjökull immer an der Ostseite von Lómagnúpur entlang. Nach kurzer Fahrt hielten wir an. Links von uns der Fels Lómagnúpur, rechts der Gletscherfluß Súla und die weite Sanderfläche Skeiðarársandur. Vor uns die spitzen Berge der Sulutindar, der Lómagnúpur, Skeiðarárjökull, mit seinen von schwarzem Sand bedeckten Ausläufern und weiter östlich der Öræfajökull, mit dem höchsten Berg Islands, dem Hvannadalshnjúkur mit 2119 m.

Öræfa - die Wüste

Der Ausbruch des Öræfajökull 1362 war der größte auf Island verzeichnete Aschenausbruch, der alle bewohnten Gebiete in Öræfasveit zerstörte. Das Gebiet Litla Hérað genannt, erhielt erst danach den Namen Öræfi (Wüste). Der Öræfajökull brach noch einmal, 1727, aus.

Hier wird einem bewußt, wieso dieses Gebiet so spät erschlossen wurde. Noch nach dem 2. Weltkrieg waren die westlichen Gehöfte die unzugänglichsten in ganz Island; nach Norden bildeten die Eismassen des Vatnajökull; nach Süden die gefährliche, hafenlose Meeresküste; nach Westen die verästelten Gletscherflüsse des Skeiðarársandur und im Osten der tiefe, reißende Abfluß des Breidarmerkurjökull natürliche Hindernisse, die nur unter größten Schwierigkeiten zu überwinden waren. Einen kleinen Eindruck davon sollte ich später bekommen. Das letzte Hindernis einer direkten Verbindung von Reykjavik nach Skaftafell beseitigte eine Brücke quer über den nördlichen Skeiðarársandur, die 1974 fertiggestellt wurde. Sie überspannt den Gletscherfluß Skeiðarár. Die Ringstraße, die Straße Nr. 1 war geschlossen. Bekannt wurde der Landpostbote Hannes Jónsson, der die Gletscherflüsse und den Sander am besten kannte und oftmals die einzige Verbindung aufrecht erhielt zwischen Núpsstaður und Skaftafell oder die Gegenden noch weiter im Osten. Seine bekannteste Fahrt ist die Heimwanderung über das zerklüftete Eis von Skeiðarárjökull, als der Sander durch einen Gletscherlauf in Skeiðará völlig unpassierbar war.

Sein Enkel, ebenfalls Hannes Jónsson genannt, packte sich eine Rolle Hanfseil auf den Rücken. Die Isländer schulterten ihre leichten Rucksäcke und so wuchtete ich mir meinen Rucksack ebenfalls auf den Rücken. Und los ging es. Wir stiegen den Hang hoch und dann ging es an der Súla entlang. Vielleicht steht der Bus etwas weiter weg und wir müssen nur ein Stück zu Fuß gehen, dachte ich. Es ging durch einen kleinen Birkenwald, dann auf einem ausgetretenen Pfad wieder nach unten und wir wanderten ungefähr eine halbe Stunde über Stock und Stein. Dann sah ich den Bus. Und zwischen dem Bus und uns: einen Fluß – die Núpsa. Und jetzt fing ich an zu verstehen.

Eine Flußüberquerung

Und als wir den Fluß erreichten wurde die Ahnung zur Gewißheit. Wir würden übersetzen!

Das Boot war ein ausgedientes altes spanisches Seenotrettungsboot. Hannes fing sofort mit der Vorarbeit an. Er zog eine Fischerhose an, packte eine dicke Eisenstange, band sich das Hanfseil um und stieg in die Núpsa. Vorsichtig aber doch schnell querte er die Núpsa, während ihn ein Isländer sicherte. Manchmal stieg ihm das Wasser bis Brusthöhe. Schließlich erreichte er das andere Ufer. Dort befestigte er das Seil mit Hilfe eines großen Felsens und schichtete Steine darauf. Dann kam er zurück. Wir zogen das Seil straff. Schnell wurde es hier auf unserer Seite ebenfalls mit Hilfe von Steinen vertäut. Nun wurde das Boot zu Wasser gelassen und die Fahrt ging los. Sich am Seil entlang ziehend, gesichert durch ein weiteres Seil, erreichte die erste Fuhre das andere Ufer. Zwei weitere Bootsfahrten folgten, dann waren alle Personen und das Gepäck über die Núpsa gebracht. Wir stiegen in den dort stehenden Bus. Ein alter Daimler, der einer der ersten Überlandbusse auf Island war. Nach kaum fünf Minuten Fahrt erreichten wir den Zeltplatz, auf dem ich die nächsten Tage verbrachte. Dort stand eine kleine Hütte, mit zwei WCs, zwei Waschbecken mit fließend kaltem Wasser. Hinter der Hütte gab es einen kleinen Grasplatz den ich zu meinem Zeltplatz erkor. In die Hänge des Eystrafjall hatten sich Wasserläufe tiefe Canyons gegraben oder stürzten Wasserläufe in großen oder kleinen Wasserfällen in das Tal. Wir waren in Núpsstaðarskógur.

Nach einer kleinen Pause ging die Fahrt weiter ins Tal der Núpsa. Wieder eine kurze Fahrt bis wir die Núpsa erreichten, die sich eng an die Flanke von Eystrafjall anschmiegte. Hier gab es für den Bus kein durchkommen mehr. Von hier ging es nur noch zu Fuß weiter. Entlang der Núpsa, auf einem kleinen Pfad durch den typisch isländischen Birkenwald, ging es zum Kálfsklif. Unterwegs zeigte uns Hannes eine kleine Hütte im Wald, die Bauern beim Schafttrieb benutzten. Sie war in einen Hang gegraben, mit Gras bedeckt, das Dach innen aus Holz. Nur ein kleines Fenster und eine niedrige Holztür unterschied diese Hütte von einem gewöhnlichen grasbewachsenen Hügel. Nach einer kurzen Klettereinlage erreichten wir den wohl sehenswertesten Aussichtspunkt von Núpsstaðarskógur: Núpsafoss und Hvitarfoss. Hier fließen die Núpsa, deren Wasser milchigfarbig vom Gletscher ist und die Hvita, deren Wasser klar und blau ist, über das Kálfsklif, getrennt, aber das milchige und das klare blaue Wasser vermengen sich nach dem Fall. Diese Stelle wird auch der Zwei-Farben-Topf genannt. Kurz darauf wurde der Rückweg wieder in Angriff genommen und bald erreichten wir den Zeltplatz. Nachdem mir Hannes den Weg zum Grænalón erklärt hatte (Left side of Bunki and than on Eystrafjall, sein rechter Zeigefinger zeigte mir den Weg auf der Karte) fuhr der Bus weiter. Ich blieb zurück. Mußte ja noch das Zelt aufstellen. Ich ging zu dem Grasplatz hinter der Hütte. Dort war der Boden weich und es schien mir der beste Platz zu sein. Hier war es eben und weich. Keine Steine. Schnell war das Zelt aufgestellt. Vor dem Abendessen machte ich noch einen kleinen Spaziergang zum Gletschertor der Súla. Der Skeiðarárjökull erhob sich schwarz, das Eis ganz mit schwarzem Abrieb bedeckt. Die Súla brauste wild aus einem Gletschertor zwischen dem Hang des Eystrafjall und dem Eisrand des Skeiðarárjökulls, die eine eisige Schlucht bildeten. Die Súla entsteht hier teilweise als Quellfluß auf dem Eystrafjall und teilweise entspringt sie unter dem Eisrand. Schon nach wenigen Metern ist sie ein breiter und reißender Gletscherfluß. Aus dunklen Rissen, Spalten und Löchern des Eises strömt das milchig trübe oder graubraune Wasser in Rinnsalen aus dem Eis, vereinigten sich mit dem reißenden, schmutzigbraunen Fluß. Nachdem ich einige Abzweigungen der Súla auf Steinen überquert hatte stand ich vor dem Fluß, dem Gletschertor gegenüber. Schäumend wälzte sich die schmutzige Flut in ihrem Bett. Weit ging der Blick über das Vorland, den Skeiðarársandur. Nur einige mächtige Moränenhügel hinderten den Blick daran, die Weite dieser Landschaft voll auszuschöpfen. Nach einigen Minuten ging ich wieder zurück. Es war ein wenig kälter geworden und es fing leicht an zu regnen. Nach dem Abendessen kroch ich gleich in den Schlafsack, denn morgen wollte ich früh aufstehen, um den Weg zum Grænalón in Angriff zu nehmen. Sofern das Wetter mitmachte.

Eine nasse Überraschung

Der Regen wurde heftiger. Es goß nun in Strömen. Ich fand keinen Schlaf. Kurz vor Mitternacht kroch ich noch einmal aus dem Schlafsack, um nach dem Wetter zu sehen. Ich öffnete das Zelt. Was für eine nasse Überraschung! Rund um mein Zelt stand das Wasser. Mit meiner linken Hand patschte ich im Wasser. Die Grasfläche hatte sich in einen See verwandelt. Noch war es im Zelt trocken aber es war mir klar, daß ich von hier so schnell wie möglich weg mußte. Also Regenkleidung angezogen und das Gepäck in die Hütte getragen. Anschließend das Zelt abgebaut und an einer höheren Stelle wieder aufgebaut. Und das alles im Licht einer Taschenlampe und im strömenden Regen. Nachdem das Zelt wieder stand mußte alles wieder aus der Hütte in das Zelt getragen werden. Alles war naß. Erschöpft schlüpfte ich um 1.30 Uhr in den Schlafsack. Kurz darauf schlief ich ein.

Um neun Uhr wurde ich wach. Es war sehr hell im Zelt und sehr warm in meinem Schlafsack. Ich öffnete das Zelt. Draußen schien die Sonne von einem strahlend blauen und wolkenlosen Himmel. Als wollte mich das Schicksal mit der gestrigen Nacht versöhnen. Kurzes Zögern. Sollte ich noch zum Grænalón aufbrechen? 5-6 Stunden hatte Hannes gesagt würde man brauchen. Das machte 10-12 Stunden. Hin und zurück ohne Pausen. Aber ein Blick zum Himmel brachte die Entscheidung. So ein Tag mußte man ausnutzen. Wer wußte schon, wie das Wetter morgen sein würde? Also hieß es sich schnell angezogen, ein schnelles Frühstück, Marschverpflegung hergerichtet und eine halbe Stunde später ging es los.

Zuerst nahm ich den ersten steileren Anstieg zum Bunki hinauf in Angriff. Dazu nutzte ich einen Wasserlauf aus, der sich einen Canyon in den steilen Hang gegraben hatte. Es ging sehr leicht. Bald hatte ich die steile Klippe erklommen. Oben war ein großer Steinmann aufgeschichtet, und ein Pfeil aus Steinen zeigte auf den Einschnitt, den ich heraufgestiegen war. Ich sah mich um. Hinter und unter mir lag das Tal der Núpsa. Steil erhob sich der Lómagnúpur. Östlich die weiße Zunge des Skeiðarárjökull. Davor erstreckte sich die riesige schwarze Fläche des Sanders. Vor mir erhob sich der 563 m hohe Bunki. Tiefe Canyons hatten sich in die Flanke des Berges gegraben. So konnte ich den Berg nicht umgehen, sondern mußte nach oben steigen. Und ich bereute es nicht. Als ich den Bergrücken erreicht hatte, bot sich mir ein hervorragender Blick auf den Öræfajökull.

 

 

So steht es in einem Buch, das ich kurz vor meinen Urlaub gelesen hatte, und das mich auch dazu bewog, den Grænalón aufzusuchen. Lange stand ich da und betrachtete das Bild, das sich mir darbot. Die Sicht war einfach prachtvoll. Im Osten lag das mächtige Massiv desÖræfajökull, dessen höchster Punkt, der Hvannadalshnjúkur sich strahlend weiß daraus erhob. DerÖræfajökull birgt den Nationalpark Skaftafell, in dem ich die letzten 5 Tage verbrachte. Davor floß in langgestrecktem, weißen Strom der spaltenzerrissene Skeiðarárjökull. Davor der schwarze Sander, daran anschließend das blaue helle Meer.

Beschwingt nahm ich die Wanderung wieder auf. Nur um, als ich den Steinmann auf Bunki erreichte, eine noch prachtvollere Aussicht zu genießen. Nun hatten sich die steilen fast senkrechten Bergspitzen der Súlutindar, eine davon sah aus wie eine kleine Pagode, sich zwischen mir und dem Öræfajökull geschoben. Ab und zu gaben sie einen Blick auf den Öræfajökull frei. Im Norden erhob sich die aufsteigende Gletscherlinie des Vatnajökull. Ich konnte den Hágöngur, den Geirvörtur und den Grænafjall erkennen. Die weiße Fläche des Vatnajökull lag im strahlenden Licht der Sonne. Hatte ich bis jetzt noch leise Zweifel den Weg zu schaffen, so waren sie jetzt verflogen.

Zum Grænalón

Leicht ging es den Bunki hinunter und dann hielt ich mich auf die Súlutindar zu. Immer wieder ging es tiefe Canyons hinunter, die kleine Wasserläufe auf der Hochfläche gebildet hatten, über große Stein- und Schotterflächen, die manchmal sehr morastig waren. Hier sammelte sich das Schmelz- und Regenwasser. Ab und zu mußte ich Umwege machen, um sehr morastige Stellen zu umgehen. Es ging immer leicht bergan. Und die Zeit verstrich. Und so setzte ich mir ein Zeitlimit. Zwei Uhr – und dann würde ich entscheiden, ob ich zum Grænalón weiter gehen würde oder zurück zum Zelt. Ich passierte einige kleine Seen, die sich auf der Hochfläche des Eystrafjall gebildet hatten. Das Moos und das blaue klare Wasser bildeten einen schönen Kontrast. Und endlich hatte ich den Eystrafjall hinter mir. Östlich von mir die Ausläufer der Súlutindar und im Norden erhob sich der 820 m hohe Eggjar. Unterhalb von meinem Standort floß die Núpsa in einem tiefen engen Canyon. Ich wandte mich nun mehr nach Osten und erstieg den Ausläufer der Súlutindar. Unter mir erstreckte sich die riesige Fläche des Skeiðarárjökull. Dahinter das Massiv des Öræfajökull. Im Norden der Teil des Vatnajökull, der den See Grænalón barg. Ich ging weiter. Der Weg wurde schwieriger. Große Geröllflächen mußten gequert und erstiegen, Täler durchschritten und tiefe Einschnitte durchwandert werden. Es war ein ständiges auf und ab. Und dann stand ich vor dem Eggjar. Es war zwei Uhr. Aber jetzt gab es kein Zurück, nur ein Vorwärts. Und ich machte mich an den Aufstieg. Ich stieg auf der westlichen Flanke hinauf. Langsam nur ging es nach oben und vorwärts. Plötzlich gab der Berg die Aussicht frei. Vor mir lag das westliche Ufer des Grænalón. Eisberge schwammen auf dem Wasser. Erschöpft setzte ich mich. Genoß den Ausblick. Gehäuft schwammen kleine Eisberge am westlichen Ende des Sees. Grünlich schimmerte das Wasser des Grænalóns. Nicht lange saß ich dort. Das Gefühl der Erschöpfung war verflogen. Ich wollte mir einen Überblick verschaffen. Also stieg ich vollens auf den Eggjar. Und hier bot sich mir der vollkommene Überblick. Die ganze nördliche Hälfte des Gesichtsfeldes nahm der Vatnajökull ein. Der Grænalón mir zu Füßen, die Hochfläche des Gletschers im Norden und Osten war von einer strahlendweiß glänzenden Firndecke überzogen.; Nordwestlich von mir der Hágöngur, davor der rote Gipfel des Eldgigur. Mächtig stand der Krater, die Landzunge fast in ihrer ganzen Breite ausfüllend, als glänzend roter Fleck zwischen zwei weißen Lappen des Gletschers, die sich riesigen Bärentatzen gleich, in die Ebene vorschoben. Dahinter und etwas östlich, überragte der hohe knopfartige Gipfel des Þórðarhyrna die flache Linie. Noch weiter östlich die charakteristische Gipfelfigur der Háabunga. Nordöstlich standen, mitten im Eis, die steil und hoch aus der Gletscherfläche ragenden Geirvörtur. Vor mir der Grænafjall. Unter mir der Grænalón, auf dessen grünlichem Wasser mächtige und kleinere Eisberge trieben und wo ein Ausläufer des Skeiðarárjökull in den See mündet. Hoch erhob sich die Gletscherstirn aus dem Wasser. Neben dem Eggjar floß der langgestreckte Skeiðarárjökull gegen Süden, wie ein weißer mächtiger Strom. Weiter im Osten leuchtete das Massiv des Öræfajökull in leuchtenden Farben. Noch weiter im Süden begrenzte das helle Meer das Land.

 

Die grüne Lagune

Lange blieb ich hier sitzen, bevor ich zum Grænalón hinunterstieg. Ich hielt auf die Gletscherstirn des Skeiðarárjökull zu. Ab und zu hörte ich den Donner abstürzender Eismassen. Es ging wie auf Stufen hinunter zum See. Große Stufen. Wie für Riesen gemacht. Oder Trolle. Schließlich erreichte ich das Ufer des Grænalón. Der Grænalón – der grüne See. Berühmt für seine Gletscherläufe. Ursache dieser subaerische, katastrophenartige Ausflüsse ist, daß der Gletschersee von dem Eis des Skeiðarárjökull gestaut wird. Hin und Wieder entleert sich der Stausee. In regelmäßigen Abständen ergießen sich alljährlich 0,2-0,3 qkm Wasser und Schuttmassen aus dem Grænalón in zwei Flüsse und nehmen ihren Weg über des westlichen Skeiðarársandur zum Meer. Riesig erheben sich einige Eisberge aus dem Wasser – formen Gesichter und abstrakte Gebilde. Kleine Eisberge sammeln sich im westlichen Teil des Sees.

Eine Stunde lang verbrachte ich im Gebiet des Grænalón. Wanderte an seinem Ufer entlang. Schwarzer Obsidian blinkte und glänzte in der Sonne. Obsisian oder isländisch hrafntinna – Rabenstein genannt, besteht aus kieselsäurereicher Lava (wie bei Rhyolith auch), die äußerst rasch und daher glasartig erstarrt. Pechschwarz lag das schwarze Gestein in allen Größen da, glänzte im strahlenden Sonnenlicht wie schwarze Spiegel. Ein Blick auf die Uhr. Langsam mußte ich an den Rückweg denken. Inzwischen war es 5 Uhr geworden. 4-5 Stunden rechnete ich für den Rückweg, denn ich spürte jetzt doch die Müdigkeit in den Beinen. Eine kurze Nacht und ein schwieriger Weg machten sich bemerkbar. Langsam ging es zurück. Diesmal weiter westlich über große Geröllflächen, über mächtige Stein- und Schneefelder und dann erstreckte sich der Eystrafjall wieder vor mir und dahinter erhob sich der Bunki. Mit neuer Kraft ging es vorwärts. Das Ziel vor Augen. Und schließlich stand ich wieder neben dem Steinmann auf Bunki. Hier machte ich noch einmal eine kurze Rast. Genoß zum letzten Mal des Ausblick im Abendlicht, im Lichte der untergehenden Sonne. Ein Lichtmeer überflutete allmählich die Gletscherfläche des Vatnajökull. Das Massiv des Öræfajökull leuchtete prächtig in der Abendsonne. Ich genoß den Ausblick, während ich das letzte Käsebrot aß und es mit Wasser hinunterspülte. Alle Müdigkeit war vergessen. Die Sonne färbte das Eis und den Schnee des Vatnajökull rot. Bald würde ich etwas warmes zum Essen und zu Trinken haben. Aber bevor ich mir etwas zu Essen mache, hatte ich noch etwas anderes vor.

Langsam stieg ich den Berg hinab, erreichte den Steinmann am Ende des Canyons und stieg langsam und etwas steif am und im Bach des Canyons hinunter. Um neun Uhr erreichte ich das Zelt – 11.1/2 Stunden lagen hinter mir. Ein schöner und anstrengender Tag. Ich zog die Schuhe aus und schlüpfte in meine Sandalen. Dann ging ich zum Bach Réttarlækur, wo früher Schafe geschoren und sortiert wurden, und in dessen Nähe ich in der ersten Nacht gezeltet hatte. Später erfuhr ich, daß ich im Feuchtgebiet Migandifláar (etwa "Pißsümpfe") gezeltet hatte. Kein Wunder, daß ich dort fast baden gegangen wäre. Der Réttarlækur stürzt in einem Wasserfall den Berg herunter. Unterhalb des Wasserfalls hat sich ein Brunnen im Fels gebildet; dorthin ging ich und tauchte die heißen und wunden Füße in das eiskalte Wasser. Ich hielt sie so lange in das Wasser, bis die Kälte weh tat. Dann zog ich dicke Wollsocken an. Es war ein herrliches Gefühl, das warme Kribbeln an den Füßen zu spüren. Jetzt noch einen heißen Tee und ein gutes Abendessen. Und dann schlafen. Mit diesen Gedanken und einem sehr guten Gefühl ging ich langsam zurück zum Zelt.

(Zitate aus Rudolf Jonas – Fahrten in Island (1948)); geschrieben im Mai 1996